Ich dachte früher immer, dass es mit zunehmendem Alter ruhiger im Leben sein werde, aber das war einer der grossen Irrtümer meiner Jugend. Im Moment habe ich den Eindruck, ich tanze auf (zu) vielen Hochzeiten, aber ich habe mir fast alles selber eingebrockt, also was soll das Jammern. Die letzten beiden Tage waren intensiv, für heute gilt bei mir die Devise: so wenig bewegen wie möglich.
Am Freitag fuhr ich bereits vor sieben Uhr morgens mit dem grossen Auto Richtung Chur. Ich hatte nur noch zwei Sitze (von sieben), drinnen und viel vor. Die Fahrt verlief bis Ziegelbrücke problemlos, ich war beinahe euphorisch und dachte gerade, dass ich knapp nach neun Uhr schon in Chur sein werde. Stehende Autos vor dem ersten Tunnel stoppten mein Jubilieren: nichts ging mehr. Schnell wie ich nun mal bin, steuerte ich die Ausfahrt an und nahm die Abkürzung über die Kerenzerberg-Passstrasse. Dort oben war ich noch nie bewusst (Wahrnehmungen als Kinder auf dem Rücksitz des elterlichen Autos gelten nämlich nicht), so dass ich die Fahrt richtig genoss. Leute, dort oben ist es schön!
Als ich wieder unten auf der Autobahn war, war diese fast autofrei, so dass ich meine Fahrt unbesorgt weiterführen konnte und nur mit leichter Verspätung in Chur eintraf.
Am Meierweg holte ich meinen Vater ab, und schon sassen wir nun zu zweit wieder im leergeräumten Auto und fuhren weiter Richtung Oberland. In Ilanz gab es den nächsten Passanstieg bis Tischinas, dann hatten wir unser Ziel erreicht. Noch vor elf Uhr begannen mein Vater und ich damit, rund ums Haus alles, was nicht niet- und nagelfest war, in den Kofferraum zu schleppen. Das war nicht wenig. Von alten Blumenkisten über Gestelle, Treibhausdächern, Strohmatten, bis zu Eisenstangen war fast alles dabei. Als die erste Wagenladung voll war, sah man zwar noch nicht viel, aber das Auto ächzte unter der Last. Zum Glück ging es nun hinunter zum Rhein bei Rueun in die Entsorgungshalle. Dort half ein netter Mann mit dem Ausladen, so dass ruckzuck der ganze Müll in den richtigen Ecken stand. Hier das Eisen, dort das Holz, etwas weiter weg Sperrgut, Karton, Papier und so weiter.
Eine gute Viertelstunde später waren wir schon wieder in Tischinas und bereit zu weiteren Taten. Das heisst, ich war es, denn mein Vater merkte etwas sein Alter und verzog sich in die Küche, um zu kochen. Ich belud das Auto ein zweites Mal, diesmal hatte es nebst weiterem Gartenabfall Platz für Material aus Keller und Luftschutzkeller. Ich staunte schon ein wenig, was sich in vierzig Jahren so alles ansammeln kann und warf furchtlos vieles weg (nachdem mein Vater den Segen dazu gegeben hatte). Irgendwo in einem Kellerschrank kam eine ganze Kiste mit uralten schwarz-weiss Fotos zum Vorschein.
Die zweite Ladung fuhr ich dann allein, nun wusste ich, wo der Entsorgungshof lag (die Fahrt dahin ist recht abenteuerlich und ich staunte beim ersten Mal, dass die Schweiz dort noch Land hat). Der nette Mann half mir wieder beim Ausladen, diesmal fragte er, wo denn das „Fröllein“ ihren Begleiter habe. Als ich antwortete, dass er kochen müsse, war der gute Mann ein wenig verwirrt.
Dafür genoss ich ein feines, verspätetes Mittagessen, da war mir die Verwirrung des Entsorgungsmannes ziemlich egal. Frisch gestärkt ging die Schufterei dann wieder weiter. Für die dritte Ladung kamen eine Abstellkammer sowie der vorderste Teil des Estrichs dran. Hier musste ich mich von vielen Spielsachen trennen, die ich schon seit bald fünfzig Jahren kenne: mein (und meines Bruders) Kinderspieltisch samt zwei klitzekleinen Stühlen, Plastikklötze, Kinderbüchergestell. Auch andere Möbel mussten dran glauben, mein Vater machte mit ihnen kurzen Prozess. So fuhr ich mit einer Wagenladung Möbeln zurück an den Rhein bei Rueun und lud noch einmal aus. Der nette Mann und ich wurden schon beinahe gute Freunde.
Als ich das dritte Mal wieder in Tischinas oben war, sagte mir mein Rücken, dass er gerne eine Pause hätte. Ich hätte dies auch liebend gern gehabt, doch meine Neugier auf den restlichen Teil des Estrichs war grösser. Mit Staubsauger bewaffnet quälte ich mich die steile Leiter hinauf, um festzustellen, dass mich dort oben lebende Mäuse erwarten. Furchtlos wie ich war, stellte ich mich auch dieser Herausforderung. Ich schmiss noch einmal tüchtig weg. Weder Spinnweben noch Mäusedreck konnten mich aufhalten. Säcke mit alter Wolle, zerkratzte Schallplatten, noch mehr Spielzeug, uralte Koffer, alles musste dranglauben. Und hier oben gab es dann für mich ein Wiedersehen mit etwas Einzigartigem: ich fand meine einhundert Winnetou-Poster! Was für ein Anblick. Ich war hin und weg und entschied mich, wenigstens eine Erinnerung nicht an den Rhein zu bringen: Meine Familie wird sich jedes Poster einzeln ansehen dürfen. Oh mein Winnetou!
Auch meine Puppenstube sowie ein nur leicht lädierter Teddybär durften die Räumungsaktion überleben. Meinem Bruder Marcel bringe ich uralte OL-Karten und Startnummern mit nach Bern. Mein Vater ist glücklich, seine Diplomarbeit aus Technikums-Zeiten wieder zu haben (abgegeben am 5. März 1960, man beachte das Datum).
Im Estrich kann man sich nur sitzend fortbewegen, so dass es mit der Zeit und nach einigem Herumschieben und staubsaugen ungemütlich wurde. Ich entschied mich, das Auto am nächsten Tag zu beladen. Der Rücken dankte. Mein Vater hatte alles Estrichmaterial vor die Haustüre gestellt. Man hätte meinen können, wir würden umziehen….
Ich duschte kurz, denn schon nahte das nächste Abenteuer: wir wollten nach Ilanz ins Konzert. Ich hatte für uns zwei Billette im Cinema sil Plaz reserviert und war gespannt, was uns erwarten würde: Corin Curschellas, eine wunderbare Liedermacherin aus Rueun gab ein Konzert mit romanischen Liedern. Da wir recht früh in Ilanz waren, kamen wir in den Genuss einer kleinen Führung. Das Cinema ist zwar sehr klein, dafür mehr als nur fein. Es existiert seit 2010 und geht auf die Initiative von ein paar Kulturbegeisterten zurück.
Als ich Kind war, gab es in Ilanz ein richtig grosses Kino, etwa zwei Mal pro Jahr durften auch wir Kinder dort einen Film anschauen (zum Beispiel: Der Schatz im Silbersee….), aber schon seit vielen Jahren ist dieses Kino geschlossen und beherbergt mittlerweile alte Kassen und so viel mir ist auch Uhren. Nun gibt es diese grossartige Möglichkeit des Cinema sil Plaz. Eine kleine Bühne im ebenfalls kleinen Restaurationsbereich war nun zum Konzert bereit.
Punkt Viertel nach acht kamen Corin und ihre Musikerinnen sowie der Schlagzeuger und entführten uns in eine faszinierende Welt der romanischen Volkslieder-Kultur. Bekannte und unbekannte Perlen reihten sich aneinander, ich hätte wohl die ganze Nacht zuhören können. Das Konzertlokal war bis auf den letzten Platz und noch etwas mehr gefüllt, der Applaus zu Recht gross. Liebe Corin, das war nicht das letzte Mal, dass ich ein Konzert von Dir besuche. Aber fürs nächste Mal frische ich meine Romanisch-Kenntnisse auf!
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück beluden mein Vater und ich das arme Auto ein letztes Mal, nahmen Abschied von Tischinas und fuhren noch einmal zum Entsorgungshof. Mein Freund, der Helfer, war leider nicht zu sehen, so dass wir allein wegschmissen. Schade, ich hätte mich gern für seine Hilfe bedankt. Ausser der Puppenstube und den Fotos (den Bär liess ich in Tischinas) fand alles die letzte Ruhestätte neben dem Vorderrhein. Was für ein Schlusswort. Oder fast.
Ich fuhr meinen Vater nach Chur zurück und danach weiter nach Bern. Es hatte viel Verkehr auf den Strassen, auch viel Stau, so dass ich über drei Stunden brauchte. Daheim war ich dann so müde, dass ich einen weisen Entschluss fasste: ich mache nichts mehr an diesem Wochenende. Und so soll es bleiben.
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