Gemischte Gefühle

Das Jahr ist noch jung, viel unternommen haben Stefan und ich noch nicht, das wird sich wohl auch nicht so schnell ändern. Nächste Woche wären wir nach Norwegen gereist, hätten uns auf den Langlaufloipen von Sjusjøen kaputt trainiert. Nun denn, Norwegen hat bis März seine Grenzen geschlossen, den Besuch dort müssen wir auf später verschieben.


Die frei gewordene Zeit werde ich wohl in «meinem» Haus in Tischinas verbringen. Erholen kann man sich dort auch, mit dem Langlaufen wird es vermutlich schwierig, auch auf 900 Metern über Meer ist es mittlerweile so warm, dass die ganze weisse Pracht in Rekordtempo schmilzt.

«Mein» Haus in Tischinas, das zu schreiben mutet eigenartig an, meine Gefühle damit sind wirklich gemischt. Und so richtig meines ist es ja auch noch nicht, mein Bruder und ich haben das Erbe unserer Eltern noch nicht geteilt, das wird dauern. Auch wenn ich «Erbe» schreibe, habe ich gemischte Gefühle. Das ist so endgültig. Seit dem Tod meines Vaters letzten November ist zwar schon einige Zeit vergangen, aber so richtig daran gewöhnt habe ich mich nicht. Ich ertappe mich häufig, wie ich denke, dass ich dies oder das meinem Vater erzählen möchte oder ihn etwas fragen will. Gerade in den letzten Wochen, als es ums Sortieren seiner Dokumente ging und ich Unterlagen fand, die mir fremd waren, merkte ich, wie sehr er mir fehlt. Ich habe zwar in den letzten Jahren so viel mit meinem Vater diskutiert und geredet wie wohl mein ganzes vorheriges Leben nicht, aber eben, es gibt immer wieder Themen, die nicht abgeschlossen sind, die wohl immer offenbleiben. Ich weiss, dass es vielen so geht wie mir, wenn die Eltern sterben, aber selber solche Momente zu erleben, ist speziell. Man sagt nicht umsonst, dass Trauerarbeit harte Arbeit ist. Ich arbeite hart.

Zurück zum Haus in Tischinas. Meine Eltern bauten es fast im Alleingang Ende der siebziger Jahre. Sie liessen das Fundament von Fachleuten bauen, also Keller, Luftschutzraum, Mauern sowie alles, was die sanitären Anlagen betrifft. Die Holzfassade machten meine beiden Onkel aus Surava, das Elektrische übernahm mein Vater als gelernter Elektroinstallateur gleich selbst. Für den Innenausbau wurde die ganze Familie eingespannt. Fast jeden freien Abend verbrachten wir in Tischinas, nagelten Täfer an die Wände, verputzten Wände, halfen beim Einziehen der Stromkabel, gossen Böden aus und strichen Küchenmöbel an. Ich war damals Anfang der Pubertät und nicht nur begeistert von dieser Art der Freizeitbeschäftigung. Irgendwann war das Haus dann fertig, Möbel inklusive. Es existiert ein Foto, auf welchem unser Auto zu sehen ist, auf dem Dach vollbepackt mit Teppichen und Möbeln. Ich glaube, heute würde jeder Polizist die Hände verwerfen, wenn er so einen Transport sieht.

Das Haus nutzten wir zuerst als Feriendomizil, vermieteten es auch. Für mich war der Aufenthalt «dort oben» (von Ilanz aus gesehen) nicht unbedingt lustig. Es gab keine Abwechslung, nur Ruhe und Erholung, genau das, was sich meine Eltern wünschten. Aber doch nicht ein Teenager!

Als es 1980 hiess, wir würden ganz nach Tischinas ziehen, brach für mich fast schon eine Welt zusammen? Weg von Ilanz, hinauf in die Langeweile, weg von meinen Freundinnen? Ich weiss, dass ich mich dermassen blöd anstellte, dass meine Eltern den Umzug lange hinauszögerten. Ich wollte nicht weg von Ilanz, basta! Irgendwann war es dann doch soweit, und mein Vater kaufte mir als «Wiedergutmachung» ein Töffli. Eine Honda! So war ich wenigstens etwas mobil und musste die gut zwei Kilometer hinunter nach Ilanz nicht zu Fuss machen. Da ich zudem bereits in Chur zur Schule ging, fielen die Freundschaften mit den Ilanzerinnen sowieso langsam auseinander. Meine «gemischten» Gefühle Tischinas gegenüber blieben jedoch – praktisch mein ganzes Leben lang.

Als ich später von daheim aus- und nach Bern zog, war ich nicht mehr so oft dort oben. Meine Eltern wohnten mittlerweile in Chur, wenn ich sie besuchte, dann dort. Erst, als ich selber Mutter wurde, verbrachte ich hin und wieder ein paar Tage im Ferienhaus, für die Kinder war es ein Paradies.

Auch in den letzten Jahren war ich nur selten in Tischinas. Nach dem Tod meiner Mutter zog es auch meinen Vater nicht mehr so oft dorthin, das Haus wurde fast nicht mehr genutzt. Auch wenn mein Vater immer mal wieder etwas renovierte, war ich stets der Meinung, dass das Haus «vergammelte».

Und nun gehört das Haus (bald) mir. Mein Bruder erhält das Haus in Chur, so wollte es mein Vater. Ich habe ihm versprochen, das Haus zu behalten, obwohl er wusste, dass ich nie ganz wohl damit war. Aber es ist/war sein Herzensprojekt und das meiner Mutter, ich könnte es niemals hergeben.

Letzte Woche war ich zwei Tage in Tischinas, habe zusammen mit Florian eine Grundordnung erstellt und auch notiert, was am dringendsten gemacht werden muss. Ich denke, das werden Heizung und Küche sein. Keine Ahnung, wie ich das anstelle, aber Stefan, meine drei Kinder plus «Anhänge» haben mir versprochen, mich damit nicht allein zu lassen.

Ich tue mich noch nicht ganz leicht mit dem Gedanken, dass Tischinas bald mir gehört, und gleichzeitig bin ich gespannt darauf, welchen Weg „Aurora“, so hat meine Mutter das Haus getauft, und ich zusammen gehen werden. Die gemischten Gefühle werden noch lange anhalten, mal schauen, vielleicht werden sie plötzlich «bunt gemischt mit einer Prise Zuversicht». Es wird wohl immer auch das Haus meiner Eltern sein.