Noch eine Geschichte über Freundschaften – und ganz wenig OL

Im Januar habe ich über ein Buch und das Wiederfinden von Freunden geschrieben. Da es ferien-, OL- und umbaumässig nichts Neues gibt, nutze ich die Gelegenheit, noch einmal etwas über eine Freundschaft zu schreiben. Für mich gab es in den letzten zwei Jahren nämlich einen sehr berührenden Kontakt, der nur zu Ende ging, weil dieser Freund letzten Oktober starb.

Als ich im November 2020 nach dem Tod meines Vaters in Tischinas etwas aufräumte, stiess ich auf einen Sack mit alten Briefen der Eltern. Ich wusste um die Existenz dieser Briefe und hatte vom Vater die ausdrückliche Erlaubnis, sie nach seinem Tod zu lesen – was ich allerdings bis heute nicht tat. Ich weiss, dass die Briefe in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren geschrieben wurden, also vom Kennenlernen meiner Eltern bis zur Hochzeit 1962 stammen, aber noch denke ich, dass ich nicht wissen muss, was sie sich schrieben. Vielleicht später, wenn ich emotional nicht mehr so nahe bin, falls dies überhaupt einmal der Fall sein wird.

Was ich allerdingst tat, war, die Briefe nach Absender zu sortieren. Eine Beige der Mutter, eine Beige des Vaters. Einen Brief konnte ich jedoch nicht meinen Eltern zuordnen. Er stammte aus der Feder eines mir fremden Mannes mit Bündner Namen und war an meine Mutter, damals in Vevey, adressiert. Sein Absender war: postlagernd, Luzern. Der Inhalt war speziell. Der Mann kannte offenbar meine Mutter sehr gut und er schrieb auch sehr persönlich. Ich dachte bis dahin, dass mir meine Mutter alle ehemaligen Verehrer genannt hatte, aber da irrte ich mich wohl.

Nach kurzem Überlegen tat ich etwas, das ich sonst nie tun würde: ich suchte im Internet nach einer Telefonnummer, die mit dem Namen übereinstimmte und wurde tatsächlich fündig. Natürlich ging ich davon aus, dass der Mann auch über achtzig Jahre alt sein musste und vielleicht nicht mehr lebte. Trotzdem wählte ich die Nummer. Zu meinem «Glück» nahm niemand am anderen Ende den Hörer ab. Ich dachte, dass ich es versucht hätte und den Brief ad acta legen könne.

Keine fünf Minuten später klingelte bei mir das Telefon. Der Anruf kam aus Luzern, ein Mann mit Bündner Dialekt fragte mich, ob ich ihn angerufen habe. Wir kamen sofort ins Gespräch, denn als ich ihn fragte, ob er eine Albina Andreoletti (so hiess meine Mutter vor ihrer Heirat) kannte, wurde er neugierig und wollte natürlich wissen, woher ich den Namen hatte und vor allem, wer ich sei.

Ich erfuhr an diesem Tag, dass der Bündner mit seinen Eltern und Geschwistern Nachbarn meiner Nonnis in Vazerol waren. Meine Grosseltern zogen Mitte der vierziger Jahre von Cavaione nach Vazerol, weil mein Nonno im Puschlav keine Arbeit mehr hatte. Die Mutter des Briefeschreibers hatte sich oft um meine Tata gekümmert, weil sich diese in der neuen Heimat sehr einsam fühlte. Der Mann war etwas älter als meine Mutter, aber als er ihr den Brief schrieb, recht verliebt ihn sie. Sie allerdings wollte von ihm nichts wissen. So erzählte er es mir am Telefon. Es war rührend. Wir plauderten mindestens eine Stunde miteinander, und von diesem Moment an telefonierten wir fast jede Woche miteinander und ich erfuhr Einiges über meine Mutter, über den Verehrer und auch die damalige Zeit. So erzählte er mir einmal, dass er sogar an der Beerdigung meiner Mutter war, da ich aber von seiner Existenz nichts wusste, hatte ich dies natürlich nicht bemerkt. An ihrem Leben nahm er aber immer in irgendeiner Form teil.

Irgendwann gingen wir vom Sie zum Du über und wurden Freunde, auch wenn wir uns noch nie gesehen hatten. Im Sommer 2021 besuchte ich ihn dann in Luzern. Er war sehr aufgeregt und hatte Angst, dass ich ihn alt finden würde. Er meinte, er hätte zwar noch eine jugendliche Stimme behalten, der Rest jedoch würde bald zerfallen. Ich war überrascht, wie gut er aussah. Von seinen fast 90 Jahren keine Spur! Es wurde ein schöner Tag, an welchem ich wieder viel über meinen neuen Freund und seine «alte» Liebe erfuhr. An diesem Tag schenkte er mir Fotos meiner Mutter, die Aufnahmen hatte er an einer Klassenzusammenkunft gemacht. Nach wie vor telefonierten wir oft, schrieben uns Mails. Im Frühling 2022 besuchte ich ihn noch einmal. Auch dieser Tag war wunderbar, aber mein Freund meinte auch, dass er langsam müde werde. Er hatte schon länger den Wunsch, nicht mehr allzu lange leben zu müssen. Die Augen wurden schlechter und längere Spaziergänge lagen auch nicht mehr drin. Ich verstand seinen Wunsch, aber ich wollte ihn auch nicht einfach so ziehen lassen. Für mich waren die Gespräche mit ihm schön, taten mir gut und letztendlich auch ihm. Im Oktober 2022 jedoch war er so geschwächt, dass er irgendwann einfach einschlief. Eine Woche vor seinem Tod telefonierten wir noch miteinander, ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, er verabschiedete sich auch von mir. Mein Freund wurde über neunzig Jahre alt, hatte ein gutes Leben und sah dem Tod gelassen entgegen.

Ich frage mich nun einfach, ob er – wo auch immer – meine Mutter wieder gesehen hat und wenn ja, was er ihr über seine Begegnungen mit mir erzählt hat. Mich haben diese zwei Jahre berührt, ich bin dankbar, dass ich diesen Mann gefunden habe und werde immer voller Liebe an ihn denken!

Vom OL gibt es nur wenig zu schreiben. Schön war, dass ich letzten Sonntag mit Robin und Ronja an einem Schulhaus-OL mitmachen durfte. Die Kinder hatten sogar Freude daran, mit der Karte herumzurennen und die Posten zu quittieren… Ab Freitag sind Stefan und ich für fünf Tage in Slowenien. Wie schon seit einigen Jahren fangen wir die OL-Saison in der Umgebung von Lipica an. Nach meinem verletzungsbedingten Forfait im letzten Jahr freue ich mich riesig, wieder durch die Wälder zu … irren…