Erst kürzlich las ich einen Artikel, in welchem es um eine bekannte Persönlichkeit ging. In der Einleitung stand, dass Person X Schweizer sei mit holländischen Wurzeln. Dieser Satz ging mir lang durch den Kopf. Ich bin Schweizerin, aber was sind meine Wurzeln? Sind Wurzeln gleichbedeutend mit Heimat?
Diese beiden Themen begleiten mich schon mein ganzes Leben, und so nahm ich den Artikel mit dem Hinweis auf die holländischen Wurzeln, um über meine Wurzeln und meinen «Status» als Schweizerin und meine Heimat nachzudenken. Zu einer überzeugenden Erkenntnis bin ich allerdings nicht gekommen.
Ich bin in der Schweiz geboren, habe einen Schweizer Bürgerort und sowohl Mutter als auch Vater sind als Schweizerin, respektive Schweizer in den Zivilstandsregistern eingetragen. Von daher ist alles klar: durch und durch Schweizerin. Mit Schweizer Wurzeln?
Ich versuche, meine Existenz mit einem Baum zu vergleichen. Da bin ich der Stamm, vielleicht das Geäst. Das ist das Schweizerische an mir. Gehe ich jedoch unter die Erde zu den Wurzeln, sieht es anders aus. Die Familie meiner Mutter stammt aus Norditalien, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Bergamo. Meine Wurzeln sind also Italienisch. Sollte ich mich dann also auch ein wenig als Italienerin fühlen? Schwierig, wenn man die Sprache erst in der Schule gelernt hat. Meine Mutter sprach leider nie italienisch mit mir, sie schämte sich. Mit meinen Grosseltern konnte ich mich erst viel zu spät unterhalten, denn diese konnten praktisch kein Deutsch. So fühlte sich diese Familie nicht wirklich als «Wurzelgeberin» an. Als ich nach Recherchen feststellte, dass die Ursprungsfamilie gar aus Korsika stammt, war es mit den Wurzeln eh ganz schwierig. Was habe ich mit Korsika zu tun?
Nun denn, das ist die Seite der Mutter. Allerdings glaube ich mittlerweile, dass ich doch ein wenig in dieser Verwandtschaftshälfte Wurzeln schlagen konnte. Schliesslich bin ich ja (siehe oben) ein Baum, und ohne Wurzeln würde ich umfallen. In Cavaione, dem schönsten und steilsten Dorf der Welt merke ich, dass ein Teil meiner Seele dorthin gehört, dass ich mich geborgen und dazugehörig fühle. Könnte man Wurzeln nennen. Oder auch Heimat. Dann wären Wurzeln und Heimat eine Art Symbiose.
Die Familie meines Vaters stammt aus Herisau, so steht es zumindest in meiner Identitätskarte. Meine Wurzeln müssten also auch irgendwo dort unter der Erde liegen. Ich bin ja nach wie vor ein Baum. Mit Herisau allerdings verbindet mich noch weniger als mit Italien oder Korsika. Ich weiss, dass noch viele Menschen dort leben, die gleich heissen (Schiess), aber sonst? Nada. Müsste ich dort leben, weil die Wurzeln dort sind, würde ich mich vermutlich umpflanzen oder fällen lassen. Dorthin, wo ich mich beheimatet fühle. Aber wo ist das? Hier in Rubigen, wo ich wohne? Ich bin gern im kleinen Weiler Kleinhöchstetten ausserhalb von Rubigen, aber als Heimat bezeichne ich ihn nicht. Ich wohne einfach hier. Weil es schön ist, weil wir auf dem Land sind, weil ich es lässig finde, in einem umgebauten Stall zu leben. Weil ich liebenswürdige Nachbarn habe.
Vor ein paar Wochen lernte ich eine Frau kennen, die ihre Wurzeln in Schaffhausen hat. Da mein Vater dort aufgewachsen ist und meine Grosseltern im Waldfriedhof begraben sind, habe ich einen grossen Bezug zu Stadt und Kanton Schaffhausen. Meine Mineralien habe ich zu einem grossen Teil dem Museum Allerheiligen geschenkt, meine Cousine wohnt im Haus der Grosseltern, mein Onkel ist vor einem Jahr in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. Schaffhausen «heimelet» mir, ich bin sehr gerne dort. Ist das Heimat? Wurzeln wohl kaum. Was ist eigentlich wichtiger? Heimat oder Wurzeln?
Als mein Vater starb, vermachte er mir sein Haus in Tischinas. Unterhalb von Tischinas, in Ilanz, bin ich zu einem grossen Teil aufgewachsen. In Tischinas habe ich sogar als Jugendliche gewohnt. Das Haus mochte ich allerdings nie. Nun gehört es mir. Werde ich dort Wurzeln schlagen? Wird es mir endlich zur Heimat? Dieses Thema ist noch sehr heikel für mich, deshalb befasse ich mich nach wie vor nicht so gern damit. Irgendwann dann – wenn es mich vielleicht in die Heimat () zurückzieht.
Vielleicht hat Heimat aber gar nichts mit Herkunft oder Wurzeln zu tun, sondern ist ein Ort, ein Gefühl sogar, wo man sich einfach «daheim» fühlt. Mir geht es so, wenn ich in Norwegen bin. Jedes Mal, wenn ich die Grenzen nach Norwegen überquere, habe ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Ich habe keine Wurzeln in Norwegen, lebte nur einmal für drei Monate dort und trotzdem, dieses gute, erdige Gefühl vom Daheim sein habe ich wirklich nur dort. Ist doch auch schön, oder?