Silvias Fragestunde

«Wir werden zu dem, was wir tun». Dieses Zitat von Tschiang Kai-scheck, einem ehemaligen chinesischen Politiker, regt mich früh am Morgen des letzten Oktobertages zum Denken an. Vor allem zur Frage, «ja, was bin ich denn geworden?» Ich weiss, noch vor sieben Uhr sollte man sich nicht so schwierige Fragen stellen, aber ich habe nun mal dieses Zitat gelesen und suche nach Antworten. Vermutlich werde ich sie heute nicht finden. Und morgen nicht, auch nicht übermorgen. Und dann kommt unweigerlich die nächste Frage: muss ich wissen, zu was ich geworden bin? Reicht es nicht einfach, zu sein? Es gibt Menschen, die sind tatsächlich zufrieden damit, zu leben, zu lieben, zu sein. Ich konnte das nie, nicht einmal als Kind. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich mir ungefähr als achtjähriges Mädchen stundenlang das Gehirn zermarterte, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was mit dem All geschehen würde, wenn es die Erde nicht mehr gäbe. Ich fragte mich damals, ob das All dann noch einen Sinn haben würde, so ganz ohne Erde. Natürlich wusste ich nicht, dass es weit mehr gibt als «nur» unsere Erde, ich glaube nicht, dass mir das Planetensystem bekannt war oder ich jemals von Galaxien gehört hatte. Meine Welt damals war klein, nur meine Gedanken sprengten sie ab und zu. Ich versuchte mir tatsächlich vorzustellen, wie es im All aussehen würde ohne die Erde. Ich fragte mich ernsthaft, wohin es die Menschheit verschlagen würde, ob genug Platz für alle wäre. Zum Glück gab das Internet keine Antworten darauf, vielleicht hätte ich dann aufgehört zu fragen.

Heute gibt es mehr Fragen denn je. Vor allem, was wir Menschen uns gegenseitig antun, weshalb wir nicht einfach in Frieden miteinander leben können. Und eben, leben, lieben, sein. Wir werden es wohl nie hinkriegen.

Abgesehen von der Gegenwart und der Zukunft der Menschheit stelle ich mir auch persönliche Fragen. Eine tauchte Anfang dieser Woche auf, als ich einen wunderbaren Artikel las, der davon handelte, wie reich man sein kann, wenn man von Kind auf verschiedene Sprachen gelernt hat. Die Frau, die diesen Artikel in der Südostschweiz schrieb, schwärmte davon, mit ihren Grosseltern im Puschlaver-Dialekt sprechen zu können, obwohl sie in Chur aufgewachsen ist. Meine Grosseltern sprachen kein Deutsch, die «Tata» nebst dem Dialekt aus Cavaione etwas romanisch, mein «Nonno» nur Italienisch, respektive Cavaiones. Ich konnte mit den Grosseltern bis zu deren Tod nie sprechen, denn meine Mutter sprach nur deutsch mit uns Kindern. Nach dem Lesen des Artikels fragte ich mich dann auch, wie wohl das Verhältnis zu den Grosseltern gewesen wäre, hätte ich jemals mit ihnen gesprochen. Wir waren als Kinder zwar oft bei ihnen daheim, hörten der vertrauten aber nicht verständlichen Sprache zu, konnten aber nie mitreden. Ich weiss bis heute nicht, wer eigentlich meine Tata war oder wie mein Nonno dachte. Ja, wer waren die beiden? Darüber nachzudenken gehörte in den letzten Tagen regelmässig in meine Fragestunde. Und fügt sich fast nahtlos in die Frage ein: zu was bin ich geworden? Wäre ich anders, hätte ich meine Grosseltern verstanden? Mein Nonno war vermutlich ein netter Mensch, aber ich hatte immer leichte Angst vor ihm. Er hatte schneeweisse Kraushaare, lächelte oft, war ein Bauer mit Leib uns Seele (denke ich mal), etwas «derb», und doch fühlte ich mich in seiner Gegenwart nie wohl. Meine Tata war, so erlebte ich sie durch meine Mutter, eine traurige, melancholische Frau, die nichts anderes kannte als Arbeit. Sie war beinahe blind und versuchte dennoch, ihr Haus in Ordnung zu halten. Am Anfang ohne fliessend Wasser oder einem elektrischen Herd in der Küche. Wie schaffte sie das alles? Was dachte sie über ihr Leben? Keine Ahnung.

Am zweiten November jährt sich zum dritten Mal der Todestag meines Vaters. Ich vermisse ihn immer noch sehr und frage mich oft, warum gerade er an Corona sterben musste. Wir hatten seit der Demenz-Erkrankung meiner Mutter eine gute Beziehung aufgebaut, ich konnte meinem Vater viele Fragen zur Familie stellen, die er – so glaube ich zumindest – wahrheitsgemäss beantwortete. Allerdings blieben nach seinem Tod viele Fragen offen und es tauchen neue auf. Wie geht man damit um, wenn man weiss, dass man keine Antworten mehr erhält? Ich habe einen Brief meiner Mutter an ihn gefunden, geschrieben am 27. November 1956, der mich irgendwie traurig machte. Meine Mutter hatte vermutlich nie richtig deutsch gelernt, vor allem nicht schreiben. Der Brief war voller Fehler. Hatte meine Mutter jemals die Gelegenheit, dies zu ändern? Wie gingen die Eltern damit um? Keine Ahnung. Allerdings war der Brief voller Liebe zum Vater geschrieben, dass es mir wieder warm ums Herz wurde. Ich wusste nie so recht, wie die Beziehung meiner Eltern war, man sprach früher nicht darüber, aber nach diesem Brief weiss ich wenigstens etwas: es war nicht mehr und nicht weniger als Liebe!

Liebe schicke ich gerade in diesen Tagen meinen Kindern. Alle drei tragen ihre Rucksäcke, ich frage mich hin und wieder, wie schwer sie zu tragen haben. Hier finde ich Antworten, wenn ich mit den dreien spreche, das ist vermutlich der leichteste Teil meiner Fragestunde: Reden ist wichtig, manchmal viel, manchmal wenig, aber zu wissen, wie es den anderen geht, beantwortet doch schon einiges. Gerade an Florian denke ich im Moment oft. Vor zwei Jahren, genau um diese Zeit, ging es ihm schlecht, er hatte mehr offene Fragen als Antworten, gottlob hat sich dies geändert. Für ihn, wie wohl für alle von uns hat dieses Zitat von Doro May Gültigkeit: Das Leben ist schön, von einfach war nie die Rede.

Meine Fragestunde wird vermutlich nie zu Ende gehen. Ich kann wohl immer wieder Antworten finden, aber genau dann, tauchen neue Fragen auf. Ich glaube, ich brauche diese Fragen um irgendwann herausfinden zu können, zu was mich das Leben gemacht hat.